„Olle Petze!“ – Was steckt wirklich hinter Ärger?

Eine Schwester holt für ihren Bruder Hilfe, der sie zum Dank dafür als Petze bezeichnet und sauer auf sie ist…

Heute üben wir mal, uns in zwei verschiedene Personen hineinzuversetzen, um zu verstehen, um was es beiden womöglich ging, um die Basis für ein Versöhnungsgespräch zu schaffen.

„Olle Petze!“ – Was steckt wirklich hinter Ärger?

Ich bin mit einer Freundin und den Kindern auf dem Spielplatz verabredet. Die Kinder beschäftigen sich gerade allein, wir nutzen die Zeit, setzen uns auf die Bank und quatschen ein bisschen. Die ältere Tochter meiner Freundin geht den Kindern hinterher, die inzwischen über den Zaun geklettert sind und jetzt die BMX Strecke hoch und runter jagen. Ich freue mich, dass sich Oliver schön auspowert und plaudere weiter…

Nach etwa einer Viertelstunde kommt die Tochter meiner Freundin zu uns:“Da ärgern uns zwei Jungs.“ Meine Freundin und ich sind uns einig, dass nicht gleich zwei Erwachsene da rüber marschieren müssen, also erkläre ich mich bereit, nach dem Rechten zu sehen.

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Ich nehme die Abkürzung über den Zaun, sehe mich nach ihnen um, und erkenne sie in der Ferne des Platzes. Sie stehen in einer kleinen Gruppe von fünf Kindern da und scheinen irgend etwas zu bereden. Find ich gut, denk ich mir, streiten und diskutieren muss ja auch irgendwie gelernt werden…

Nur bleibt es leider nicht beim friedlichen Diskurs. Olivers Freund wirft seinen Gegenüber nun mit einem gezielten Karatemove zu Boden und tritt mit einem Kick nach. Oliver steht unsicher daneben und weiß sich nicht zu helfen. „HEY! STOPP! WAS IST DENN HIER LOS?!“, rufe ich zu den Kindern rüber, in der Hoffnung, somit Zeit zu schinden, bis ich ganz bei ihnen bin.

Das Rüberschreien hat geholfen. Die Kinder blicken hoch, der Junge am Boden rappelt sich auf und ich steh vor ihnen. „So. Was ist hier los?“, frage ich ein wenig außer Atem. Olivers Freund geht gleich in die Verteidigung:“Der (Der ist der Junge, der gerade noch am Boden lag) hat angefangen, der hat mich geschubst.“ und dann fügt er noch etwas leiser hinzu:“Und ich mag das überhaupt nicht, dass sie gepetzt hat…“

Um das Thema „Gleiches mit Gleichem vergelten“ schreibe ich in einem anderen Beitrag, mir geht es heute einzig und allein darum, zu verstehen, warum Olivers Freund am Ende so sauer auf seine Schwester war, die doch eigentlich nur Hilfe holen wollte.



Was bedeutet Petzen?

Das Wort „Petzen“ wird entweder als Substantiv (die Petze, die Petzerin, der Petzer) oder als Verb verwendet und meint:

„(besonders einer Lehrperson, den Eltern o. Ä.) mitteilen, dass ein anderer etwas Unerlaubtes, Unrechtmäßiges o. Ä. getan hat“ – www.duden.de

Worum geht es Petzen?

Wenn ich das Wort „petzen“ wertfrei beschreiben möchte, geht es also darum, den Eltern (oder wem auch immer) mitzuteilen, was Person X getan hat… Und deshalb ist der Bruder auf seine Schwester sauer? Weil sie sagt, was vorgefallen ist?

Vielleicht hilft es ja, wenn wir uns mal in die Lage von Petzen hineinversetzen. Worum geht es Petzen denn eigentlich?

1. Orientierung, Klarheit

Wenn sich Kinder streiten und dieser Streit dann eskaliert, indem sie z.B. handgreiflich werden wie in der obigen Situation, fühlen sich die Personen, die das mitbekommen, womöglich unsicher. Sie wissen nicht so recht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Also entscheiden sie sich, jemand Erwachsenes um Hilfe zu bitten, von dem sie ausgehen, dass sie/er für Klarheit sorgen wird, denn die verfügen schon über mehr Erfahrung und wissen bestimmt, was jetzt zu tun ist. Petzen geht es also um Klarheit, Orientierung in einer für sie unsicheren Situation.

2. Schutz, Gerechtigkeit

Wenn Kinder etwas beobachten, das sie in ihrem Wertesystem als „nicht ok“ einstufen, sich aber gleichzeitig nicht in der Lage sehen, zu helfen, weil die/der Täter*in stärker oder einfach bedrohlich wirkt, sind Erwachsene eine gute Strategie, um das Opfer als auch sich selbst zu schützen – schließlich sind Erwachsene in der Lage, auch bei Handgreiflichkeiten dazwischen zu gehen.

Erwachsene schlichtet zwischen Kindern

Gedanken, die sich hinter Ärger verstecken

Olivers Freund ärgerte sich also über seine Schwester, die gepetzt hatte. Wenn wir uns ärgern, liegt die Ursache in den Gedanken und Urteilen, die wir dabei haben. Gedanken, wie z.B.:

„Sie hat mich verraten.“

„Ich kann ihr nicht vertrauen.“

„Sie will ja nur, dass Mama böse auf mich ist und mich anmeckert.“

„Sie mag mich nicht.“

„Sie denkt, ich schaffe das nicht allein, dabei bin ich schon groß und kann das selber!“

„Sie glaubt nicht an mich.“

Auch Glaubenssätze können in solchen Situationen zum Vorschein kommen, die uns z.B. sagen „Ich bin nicht richtig, so wie ich bin.“.

All diese Gedanken, die Olivers Freund womöglich gedacht haben könnte, überblenden seine eigentlichen, tiefer liegenden Gefühle, die zu fühlen viel unangenehmer wären, wie z.B. Trauer und Enttäuschung. Wenn wir uns mit solchen Gedanken ablenken lassen, verlieren wir aber aus den Augen, um was es uns eigentlich geht, also was unsere eigentlichen Bedürfnisse sind. Was könnte das z.B. sein?

1. Vertrauen

Was passiert, nachdem jemand einem Erwachsenen mitgeteilt hat, was Person X „Falsches“ getan hat? In der, sage ich mal, konservativen Erziehung werden, nachdem ein Kind etwas scheinbar „Falsches“ getan hat, Strafen verhängt.

Petzen werden also nicht als Unterstützung gesehen, als jemand, der einfach nur Hilfe durch einen Erwachsenen sucht, sondern als Verräter, die einen bei den Erwachsenen verpfeifen und wegen derer man dann bestraft wird. Petzen kann man demnach nicht (ver-)trauen – und gerade das ist ja für in Gemeinschaft lebenden Menschen wichtig, um sich sicher und geborgen zu fühlen. Kann also auch etwas mit Sicherheit, Schutz zu tun haben.

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2. Gesehen werden

Wenn Erwachsene zu einer Situation dazu geholt werden, die sie nicht von Anfang an mitbekommen haben, können sie sich nur darauf verlassen, was ihnen von den Beteiligten erzählt wird. Ich als Erwachsene, die später hinzugeholt werde, oder auch die Mama von Olivers Freund, interpretieren die Situation also danach, was uns erzählt wird. Ich z.B. habe gar nicht gesehen, wie die anderen Jungs die Kinder geärgert haben, sondern habe nur gesehen, wie sich die Kinder unterhalten und wie dann der andere Junge von Olivers Freund zu Boden geworfen und getreten wurde.

Vielleicht hatte Olivers Freund Angst davor, dass sein Verhalten falsch interpretiert wird und er am Ende als der Böse da steht. „Du trittst einen am Boden liegenden Jungen? Was stimmt nicht mit dir? Du setzt dich jetzt so lange auf die Bank, bis ich sage, dass du wieder spielen gehen kannst.“ – zum Beispiel. Dabei wollte er vielleicht einfach nur sich und seinen Freund, Oliver, vor den Jungs beschützen, von denen sie laut Aussage der Schwester geärgert wurden. Hier geht es also ums gesehen werden, richtig hinschauen und zuhören.

Mutter tröstet Kind

3. Selbstwirksamkeit

Vielleicht wollen Kinder auch nicht, dass sich Erwachsene mit einmischen, weil sie ihre Probleme gerne selber austragen möchten. Sie möchten eigene Strategien zur Problembewältigung entwickeln. Es geht also eher darum, selbstwirksam zu sein, statt die Erwachsenen es nach ihren eigenen Vorstellungen lösen zu lassen. „Vertrau mir, dass ich diesen Streit auch selber lösen kann.“ – da sind wir dann wieder beim Vertrauen. Vertrauen von der Schwester, dass man das auch ohne die Hilfe eines Erwachsenen schafft.

4. Integrität

Für manche Erwachsene mag ein „Ihr gebt euch jetzt die Hand und damit hat sich der Streit.“ eine angemessene Lösung des Konflikts sein, für Kinder vielleicht aber nicht, vor allem, wenn sie merken, dass es keine von Herzen kommende Entschuldigung war. Sie möchten ihre Probleme also nach ihren eigenen Wertvorstellungen angehen, sie möchten sich integer verhalten.


Empathie für beide Seiten

Wenn ich mich so in Olivers Kumpel hineinversetze, dann bin ich plötzlich nicht mehr ärgerlich auf meine Schwester, ich bin stattdessen traurig, weil ich als großer Junge gesehen werden möchte, der seine Probleme ohne die Mama lösen kann. Ich wünsche mir, dass ich so, wie ich bin, richtig bin, dass ich nicht als der Böse, sondern als der gesehen werde, der sich für seine Freunde einsetzt und sie beschützt. Ich bin enttäuscht, weil ich gedacht habe, dass meine große Schwester hinter mir steht, zu mir hält.

Das sind natürlich jetzt alles nur Gedankenexperimente, die zutreffen könnten, aber nicht müssen. Ich finde solche Übungen, sich in andere hineinzuversetzen, aber sehr hilfreich, vor allem bei Streitereien. Auf diese Weise kann ich nun beide Seiten besser verstehen und ihr Verhalten nachvollziehen, was wiederum beim späteren Vermitteln zwischen beiden hilfreich ist.

Ich könnte also erstmal versuchen, herauszufinden, um was es dem Bruder und der Schwester ging, und Fragen stellen. „Hast du dir Sorgen um deinen kleinen Bruder gemacht, weil du gesehen hast, wie die Jungs ihn geärgert haben, und wolltest ihm helfen? Warst du unsicher, wie du dich bei diesem Streit verhalten kannst, und hast mich deshalb geholt?“ Je nachdem, ob die Vermutung zutrifft oder eben auch nicht, führt man dann das Gespräch weiter.

Genau das Gleiche dann beim Bruder. „Hast du dich geärgert, weil du gedacht hast, dass deine Schwester dir nicht zutraut, den Streit allein zu schlichten? Wünschst du dir ihr Vertrauen, dass du die Sache selber regeln kannst? Hattest du Sorge, dass wir Erwachsenen euren Streit nach unseren Vorstellungen regeln? Ist es dir wichtig, selber zu entscheiden, was bei eurem Streit zu tun ist?“

Das sind wie gesagt alles nur Fragen, die man stellen könnte. Natürlich bombardiert man Kinder nicht gleich mit einem Haufen Fragen, sondern lässt sie ausreden und gibt dann wieder, was passiert ist. Die obigen Fragen dienen wirklich nur dazu, sich vorzustellen, was man in solchen Momenten sagen könnte.

Ich bin mir sicher, wenn wir es schaffen, uns in beide Seiten hineinzuversetzen und dann Vermutungen anstellen, ins Gespräch miteinander kommen, dass wir dann auf einem guten Weg sind, einander besser zu verstehen und Streitereien wie Missverständnisse aus der Welt zu schaffen.

Hast du noch ein paar Ideen, um was es beiden womöglich ging oder möchtest du selber mal von einem miterlebten Streit berichten? Dann erzähl mir gerne mehr davon unten in den Kommentaren.

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