„Die ist ja total überfordert.“ – Appell zu mehr Empathie

Mein Mann und ich waren vor einiger Zeit mit unserem Sohn einkaufen, als wir eine Mutter mit ihren drei Kindern bemerkten. Sie war ebenfalls im Supermarkt, um einzukaufen. Zumindest versuchte sie es, denn sie war mit ihren drei Rabauken sichtlich überfordert.

Von jenem einschneidenden Ereignis möchte ich dir heute gern erzählen, denn meine Reaktion und die meines Mannes auf diese überforderte Mutter hätte unterschiedlicher nicht sein können…

 „Die ist ja total überfordert.“

Anfangs musste ich ein wenig schmunzeln, als ich die Mutter mit ihren Kindern „kämpfen“ sah. Ich hatte es schon mit EINEM nicht leicht, einzukaufen, weil mein Kind ständig wegrannte. Wie soll es dieser Mutter da mit ihren dreien ergehen, alle noch im Kleinkindalter, total aufgekratzt und wild und laut – wie Kinder nunmal sind.

Ich erledigte unseren Einkauf weiter, während der Papa sich mit dem Kleinen beschäftigte. Hin und wieder lief mir die Mutter über den Weg, die allmählich immer lauter mit ihren Kindern redete. Sie tat mir Leid. Sie muss einen (vielleicht sogar dringenden) Einkauf erledigen, muss ihre Kinder dafür mitnehmen (ist womöglich alleinerziehend), kann die aber auch nicht im Supermarkt Scheibe spielen lassen, immerhin hat sie auch eine Aufsichtspflicht zu erfüllen. Gar nicht so einfach, dabei die Nerven beisammen zu halten und ruhig und verständnisvoll zu sein. Ich verstand sie total, aber ich wusste keinen Weg, ihr zu helfen.

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Stress pur

Als wir die Kasse ansteuerten, war auch die Mutter mit den Einkäufen (und mit den Nerven) fertig und reihte sich vor uns ein. Die Kinder wuselten um sie herum, rannten weg, kamen von ihrem Streifzug mit der einen oder anderen Beute zurück, die die Mutter noch bezahlen sollte, was sie verneinte, weil sich ihre Kinder nicht anständig benahmen, was wiederum zu noch mehr Frustration führte. Und so schaukelte es sich mit der Zeit immer höher und höher.

Mittlerweile war ich selbst total gestresst von der Situation. Statt wie zuvor mitfühlend der Mutter gegenüber zu sein, verurteilte ich sie nun in meinen Gedanken. Sie setzte Süßigkeiten und die Lieblingssendung der Kinder als Druckmittel ein, damit sie machten, was sie wollte – ein Erziehungsmittel, das ich für absolut inakzeptabel hielt. Aber ich hielt den Mund, konzentrierte mich darauf, es nicht an mich heranzulassen, und wartete ungeduldig darauf, dass es gleich vorbei sein würde.

Ärgerlicher Frau qualmen die Ohren

Und was tat mein Mann? Der griff einfach ohne zu fragen in den Einkaufswagen der Mutter und… legte ihre Sachen aufs Band…
„Ich helfe Ihnen mal.“, sagte er, und lud weiter auf, während die Mutter etwas verdattert daneben stand. „Danke…“, stammelte sie, während nun auch die Kinder die Situation beobachteten, in der sich die beiden kurz miteinander austauschten. Was allerdings nur kurz anhielt, denn schon bald ging das Rumgerenne von vorne los, was die Aufmerksamkeit der Mutter verlangte und sie erneut laut werden ließ.

Als mein Mann fertig mit Aufladen war, ging er einem Kind nach, das sich an der Eistruhe befand, und redete in Ruhe mit ihm. Dass seine Mutter es suche und dass es zu ihr gehen solle. Das funktionierte zwar nicht so, wie gewollt, und das Kind blieb weiterhin an seinem Platz, aber ich merkte, dass sich die Stimmung etwas gelockert hatte.

Am Ende gab es nochmal viel Frustration bei Mutter und Kindern, weil sie ihnen aufgrund ihres Ungehorsams ihre Lieblingssendung für den Abend verweigerte, aber das ist es nicht, was mich so verwundert und gleichzeitig bewundernd zurückließ.



Verurteilen

Obwohl es schon eine ganze Weile her ist, erinnere ich mich noch genau an das Verhalten meines Mannes, was für mich so einen einschneidenden Eindruck hinterlassen hat.

Ich meine, wie würde ich mich fühlen, wäre ich diese Mutter von drei Kindern, die alle nicht hören und grad einfach nur am Rad drehen? Ich wäre einfach total überfordert, denke ich. Das Letzte, was ich in dieser Situation bräuchte, wären verurteilende Blicke und Kommentare anderer Leute drum herum, die sich das ganze Spektakel einfach nur ansehen und sich womöglich denken:“ Sind ja nicht meine Kinder. Ist nicht mein Problem. Geht mich nichts an. Aber wie die Kinder sich verhalten… und die Mutter erst… das geht ja mal gar nicht!“

Dann zeigen sie ihren Missmut noch mit strafenden Blicken, brubbeln dir etwas im Vorbeigehen zu – zu leise, als dass man es verstehen könnte, jedoch laut genug, dass man weiß, dass diese Nachricht einem selbst galt – und der Teufelskreis ist geschaffen.

Finger zeigen auf verzweifelte Frau

Ja, ich habe diese Momente auch schon einige Male erleben müssen. Es war schrecklich! Ich hätte mir in dieser oder in der Situation der Mutter einfach jemanden gewünscht, der mich versteht, statt jemanden, der dumm daneben steht und mich verurteilt, wie es bei mir gemacht wurde und wie ich es selbst auch getan hatte (wenn auch nur gedanklich).

Ich hätte mir wohl jemanden wie meinen Mann herbei gewünscht. Jemanden, der einfach mit anpackt, ohne zu fragen, weil ich sonst eh gedacht hätte, es wäre eine Floskel gewesen, die ich freundlich ablehnen müsste. Jemanden, der mir kurz die Last abnimmt, mich um die Einkäufe und meine drei Flitzpiepen gleichzeitig zu kümmern. Eine kleine Verschnaufpause. Ein paar aufbauende Worte zum Kraft schöpfen.

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Empathie

Ich habe mir diesen Tag sehr zu Herzen genommen, hat er mir doch gezeigt, wie schnell ich andere Menschen verurteile, obwohl ich absolut nichts über sie weiß.

Eine Mutter fährt ihr Baby auf dem Spielplatz eine gefühlte Ewigkeit spazieren. Das Baby schreit und brüllt, doch sie macht keine Anstalten, es aus dem Kinderwagen zu holen oder anderweitig zu beruhigen. Mein Stresslevel steigt ins Unermessliche, während ich sie beobachte. Ich werde wütend und denk mir nur so:“Die lässt ihr Baby schreien. Was für eine blöde Kuh!“.

Aber weiß ich etwas über sie? Hatte sie eine anstrengende Nacht hinter sich? Hat sie ein Baby mit sehr starken Bedürfnissen, das 24/7 im Schreimodus ist? Wie war ihr Tag? Was hat sie erlebt? War er vielleicht anfangs ganz nett und kippte irgendwann? Hat sie gerade einfach einen miesen Tag, wie ihn jede/r mal hat? Hat sie momentan einen harten Schicksalsschlag zu überwinden? Oder ist sie tatsächlich immer so genervt und laut und streng und überfordert? Ich weiß es nicht.

Eine Mutter ist mit ihren Söhnen  auf dem Spielplatz und will gehen. Ihre Söhne aber nicht. Kurzerhand schmeißt sie das Kinderrad, das sie gerade noch gehalten hatte, hin, stapft zu ihren Kindern und zerrt sie mit dem Kommentar „Wenn ich sage, wir gehen, dann gehen wir.“ vom Spielplatz, während die beiden bitterlich weinen.

Was denke ich? Du kannst es dir sicher schon denken. Ich hatte wahrlich keine positiven Gedanken für diese Mutter übrig. Ich verurteilte sie, obwohl ich nur diese relativ kurze Szene beobachtet hatte. Ich wusste nichts über sie. Nicht, wie sie als Kind aufgewachsen ist. Wie sie von Erwachsenen behandelt wurde. Ich wusste nicht, wie lange sie schon mit ihren Kindern dort auf dem Spielplatz war, was sie noch vorhatte, nichts.

Durch unsere Begegnung im Supermarkt habe ich erst wirklich verstanden: Verurteilungen, böse Blicke und schnippische Kommentare machen es nur schlimmer. Und sie bringen rein gar nichts.

Verständnis ist das Wundermittel. Mitgefühl. Empathie. Hilfsbereitschaft. Eine nette Geste wie, jemandem die schweren Einkaufstüten abzunehmen. Ein paar aufbauende Worte wie „Ich kenn das.“. Ein mitfühlendes Lächeln. Das ist es, was uns Kraft gibt. Denn wir sind liebevolle Eltern, die ihr bestmögliches für ihre Kinder geben, aber manchmal sind auch unsere Reserven aufgebraucht und dann brauchen wir jemanden, der für uns da ist, so, wie wir sonst immer für unsere Kinder da sind.

Mann hilft anderem Mann den Berg hoch

Aus diesem Grund sag ich mir jedes Mal, wenn ich merke, dass ich gerade jemanden verurteile: Was könnte der positivste Grund sein, weshalb sich diese Person gerade so verhält? Was für ein Bedürfnis könnte bei ihr gerade eine Durststrecke durchlaufen? Was hätte ich an ihrer Stelle in diesem Moment gebraucht? Kann ich das für diese Person jetzt machen, damit es ihr womöglich besser geht?

Ich will weg davon, andere Leute zu verurteilen, weil es einfach nichts bringt. Es macht mich einfach nur wütend und ohnmächtig. Entwickel ich stattdessen Verständnis für das Handeln jener Personen und kann eventuell sogar noch helfen, ist jeder/m geholfen: Der überforderten Mutter bzw. dem überforderten Vater (oder wem auch immer), den Kindern, meinem Kind, mir selbst, ja, sogar den Menschen um uns herum.

Hattest du auch schonmal so einen Moment der Überforderung erlebt – bei dir oder anderen Personen? Was hättest du bzw. was, glaubst du, hätte dieser Mensch in diesem Moment am Meisten gebraucht?

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6 Gedanken zu „„Die ist ja total überfordert.“ – Appell zu mehr Empathie“

  1. Wie einfühlsam geschrieben, und wie wahr! Zu verurteilen ist viel einfacher, als das Positive anzunehmen. Werde mir die Reaktion Ihres Mannes zum Vorbild nehmen! Menschen wie er machen die Welt ein kleines bisschen besser.

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  2. Ich hatte vor kurzem eine Mama mit Tochter im Laden. Das Mädel war vielleicht fünf und hatte einen ziemlichen Wutanfall. Sie schrie, warf sich immer wieder auf dem Boden und war nicht ansprechbar. Die Mutter erledigte ihren Einkauf undversuchte zwischendurch immer wieder ihre Tochter zu beruhigen. Ich habe erstmal weiter gearbeitet. Irgendwann drang sie zu ihrer Tochter durch und die setze sich in den Einkaufswagen. Ich bin dann kurz zu der Mutter gegangen und habe ihr gesagt das sie das total toll gemacht hat. Sie war total fertig und hat sich gefreut eine positive Reaktion zu bekommen.

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    • Liebe Tanja,
      vielen Dank für diese Geschichte. Ich finde, positives Feedback nach solch herausfordernden Situationen ist auch echt wichtig. Du hast der Mutter bestimmt wieder Kraft gegeben, da bin ich mir sicher 🙂
      Liebe Grüße
      Julia

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  3. Mein damals 3jähriger wollte ein Spielzeug. Ich wollte es nicht kaufen. (Blödschrott/schnell kaputt/ Frust als Nachsendeauftrag. Er kam leider nicht drumherum seinem Unmut und seiner Trauer deutlich Ausdruck zu verleihen und entschied sich für den Klassiker: er warf sich auf den Boden, weinte, schrie und schimpfte virtuos gleichzeitig. Ich sagte: „Ich gehe an die Kasse bezahlen und warte dort auf Dich.“ Ich drehte mich um und tat was ich sagte. Ein paar Blicke, Not amused, folgten mir. Die Verkäuferin kannte mich. Ich sagte was los ist, sie grinste nickend. Gut 5 Minuten schnackten wir, als ein Kunde sich empörte, daß da ein Kind auf den Gang läge und bitterlich weint. Die Verkäuferin sagte wunderbar sachlich: „Und die Mutter wartet hier bis er wieder aufsteht und ohne Spielzeug nach Hause geht. Ich bekam noch einen abschätzigen Blick, den ich mit einem Lächeln erwiderte. Nochmal Kapp 5min und mein Sohn kam, er hatte die Trauerarbeit erfolgreich abgeschlossen. Falls eine Mutter wie in der beschriebenen Situation meinen Ereignishorizont kreuzen würde, dann würde ich sie fragen, ob ich die Befehlshaberin (spielerisch) geben dürfte. Ich habe eine laute Stimme. Nach meiner neuen Namensgebung dürften „Du da“ „der andere“ und „neenee Du auch“ dann zielgerichtet Produkte für die Mutter suchen. Wer dabei Unsinn macht wird zur Strafe gekitzelt… könnte dann klappen oder schiefgehen… eventuell der Mutter „Strafen“ vorschlagen. Barfuß ins Bett oder etwas aus dieser Kategorie… Schwierigkeitslevel: nicht sprechen oder nur flüstern… ein Versuch wär‘s wert…🙂🙃😉

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    • Hallo Lilie, danke für deine Ideen, vielleicht werden sie der/dem einen oder anderen in einer brenzlichen Situation helfen. Eine Frage zu deiner persönlichen Situation, die du geschildert hast, hätte ich noch, einfach des Verständnisses wegen: Hatte dein Kind dich im Blick, als er du an der Kasse warst?
      Liebe Grüße
      Julia

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